Das sind die Geräusche. Aber es gilbt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles
tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer
zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles
geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.
Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen,
daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem
Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich
will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß
ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch
nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar,
daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die
mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht
noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.
Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen
ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch
viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen
ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig,
es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf
der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln
es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten
sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich,
da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie
auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre
Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.
Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach
dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten
für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das
hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen,
ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen
dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus,
das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.
Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber
in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing
an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken,
soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein
...
Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir
den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben
und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich
ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen
blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich
unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht
zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht
von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor
dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. Dieses Hotel ist ein angenehmes Hotel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.
Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König
Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten
gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion
ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es
auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für
einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich
doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig
und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben,
wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie
ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben,
fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen:
nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt,
wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört,
die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch,
daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten
gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts
zu tun).
In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen
Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der
Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause
stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise
zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon
anfängt und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche.
Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod
ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn
sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man
wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über
der Brust oder würgt, dann hat es seine Not.
Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich,
das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte
man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte
wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die
Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schoß und
die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche
Würde und einen stillen Stolz.
Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man
es an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer:
zwei Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk
hinaus.
Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es schien,
als müßte man Flügel anbauen, denn der Körper des
Kammerherrn wurde immer größer, und er wollte fortwährend
aus einem Raum in den anderen getragen sein und geriet in fürchterlichen
Zorn, wenn der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr,
in dem er nicht schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von
Dienern, Jungfern und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf
und, unter Vorantritt des Haushofmeisters in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor dreiundzwanzig
Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das sonst nie jemand betreten
durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort ein. Die Vorhänge wurden
zurückgezogen, und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte
alle die scheuen, erschrockenen Gegenstände und drehte sich ungeschickt
um in den aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab
da Zofen, die vor Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich
gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und ältere
Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man ihnen
von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun glücklich befanden,
alles erzählt hatte.
Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle
Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen russischen
Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und her,
durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Gemach, hoben
sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf das weißgoldene
Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem Gesicht und zurückgezogener
Stirn nach rechts und nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde
saßen, mit Gesichtern, als wäre alles ganz in der Ordnung, in
dem breiten, seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger,
mürrisch aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an der
Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die Sèvrestassen
zitterten.
Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine
schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die irgend
eine hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte, Rosenblätter heraustaumelten,
die zertreten wurden; kleine, schwächliche Gegenstände wurden
ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt,
manches Verbogene auch unter Vorhänge gesteckt oder gar hinter das
goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel etwas,
fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es
zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf, denn
diese Dinge, verwöhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.
Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von
alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles
Untergangs Fülle herabgerufen habe, - so hätte es nur eine
Antwort gegeben: der Tod.
Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn
dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform hinausquellend,
mitten auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In seinem großen,
fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er
sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu
legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit
jenen ersten Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch
hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts anderes
übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn hinunter
hatte er nicht gewollt.
Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die
Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach dem
anderen durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem mürrischen
Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen
Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer, grauer Hand. Auch
von der Dienerschaft standen jetzt die meisten draußen in dem weißen
Gang, der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben
waren, sahen manchmal heimlich nach dem großen, dunkelnden Haufen
in der Mitte, und sie wünschten, daß das nichts mehr wäre
als ein großer Anzug über einem verdorbenen Ding.
Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor
sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn.
Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme gehörte, es war
Christoph Detlevs Tod.
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden,
verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den
Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache, spreche, spiele
und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und
Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und
schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten, dann
schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so
lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten
und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zitternden
Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die weite,
silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er
brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und
blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und
die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten
Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber sie hörten
es, sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre,
und sie flehten, auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und
weit, und setzten sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern.
Und die Kühe, welche kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und
verschlossen, und einer riß man die tote Frucht mit allen Eingeweiden
aus dem Leibe, als sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk
schlecht und vergaßen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei
Tage ängstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und
vom erschreckten Aufstehen so ermattet waren, daß sie sich auf nichts
besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche
Kirche gingen, so beteten sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard
geben. denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten
und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch
er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die
Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die
ganze Nacht dröhnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall
zu läuten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab
einen unter den jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins
Schloß gegangen und hätte den gnädigen Herrn erschlagen
mit seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt,
daß alle zuhörten, als er seinen Traum erzählte, und ihn,
ganz ohne es zu wissen, daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen
sei. So fühlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der man den
Kammerherrn noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl
man so sprach, veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der
auf Ulsgaard wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für
zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und während dieser Zeit war
er mehr Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie
ein König, den man den Schrecklichen nennt, später und immer.
Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der
böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang
in sich getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß
an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen
nicht hatte verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in
den Tod, der nun auf Ulsgaard saß und vergeudete.
Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt
hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen
schweren Tod.
Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich
gehört habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod
gehabt. Diese Männer, die ihn in der Rüstung trugen, innen, wie
einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann
auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubühne, vor der ganzen
Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich hinübergingen.
Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht irgendeinen Kindertod,
sie nahmen sich zusammen und starben das, was sie schon waren, und das,
was sie geworden wären.
Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit,
wenn sie schwanger waren und standen, und in ihrem großen Leib, auf
welchem die schmalen Hände unwillkürlich liegen blieben, waren
zwei Früchte: ein Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte
Lächeln in ihrem ganz ausgeräumten Gesicht nicht davon her, daß
sie manchmal meinten, es wüchsen beide?
Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen
und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie nach einem weiten
Weg über die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken, daß
alles das nichtmehr ist, daß fremde Leute wohnen in dem alten langen
Herrenhaus. Es kann sein, daß in dem weißen Zimmer oben im
Giebel jetzt die Mägde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf schlafen
von Abend bis Morgen.
Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit
einem Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne Neugierde.
Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge,
ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer
hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß
man alt sein, um an das alles heranreichen zu können. Ich denke es
mir gut, alt zu sein.
Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr großer, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysées her; er trug eine Krücke, aber nichtmehr unter die Schulter geschoben, - er hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Lächeln der Freude nicht unterdrücken und lächelte, an allem vorbei, der Sonne, den Bäumen zu. Sein Schritt war schüchtern wie der eines Kindes, aber ungewöhnlich leicht, voll von Erinnerung an früheres Gehen.
Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluß, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Qual tun ihre Kästen auf, und das frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.
Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Länge nach. Dahinter quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht, vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines Mädchen in einem grünen Sonntagskleid tanzt und schlägt Tamburin zu den Fenstern hinauf.
Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt,
da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts
geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben,
die schlecht ist, ein Drama, das ›Ehe‹ heißt und etwas Falsches mit
zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist
so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit
und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein
langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte
man dann zehn Zellen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie
die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind
Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen,
Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen,
wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die
kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können
an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede,
die man lange kommen sah, an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt
sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine
Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für
einen anderen - ), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so
vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen
Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer Oberhaupt, an Meere, an Reisenächte,
die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, - und es ist noch
nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß Erinnerungen
haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an
Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen,
die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen
sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster
und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch
nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können,
wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu
warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind
es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde,
namenlos und nichtmehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann
es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines
Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.
Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine. -
Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer
und Narr, daß ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier
Menschen zu erzählen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich
in die Falle fiel. Und ich hätte doch wissen müssen, daß
dieser Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst
eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, daß man
ihn leugnen muß. Er gehört zu den Vorwänden der Natur,
welche immer bemüht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit
der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich
abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines
wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen, es wäre allen bisher
zu schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der
Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe,
ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die Ungeduld,
zu dem Dritten zu kommen, sie können ihn kaum erwarten. Sowie er da
ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich verspätet, es
kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. ja und
wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker,
und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen wäre,
dieser beliebte Lebemann oder dieser anmaßende junge Mensch, der
in allen Ehen schließt wie ein Nachschlüssel? Wie, wenn ihn,
zum Beispiel, der Teufel geholt hätte? Nehmen wirs an. Man merkt auf
einmal die künstliche Leere der Theater, sie werden vermauert wie
gefährliche Löcher, nur die Motten aus den Logenrändern
taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker genießen nichtmehr
ihre Villenviertel. Alle öffentlichen Aufpassereien suchen für
sie in entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die Handlung
selbst war.
Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese 'Dritten', aber
die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen wäre, von denen noch
nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht
zu helfen wissen.
Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich,
Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß.
Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fangt an zu denken
und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen
Gedanken:
Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches
und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß
man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen,
und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause,
in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten,
trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens
geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche,
die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen
Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel
in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden
worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist,
weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von
einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu
sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen,
was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß
man jeden einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren
entstanden, wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen
von den anderen, die anderes wüßten? Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit,
die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß
alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft,
mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer -?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß,
die doch leben? Ist es möglich, daß man ›die Frauen‹ sagt, ›die
Kinder‹, ›die Knaben‹, und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß
diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige
Einzahlen?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche ›Gott‹ sagen
und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? - Und sieh nur zwei Schulkinder:
es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz
gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden
Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt
ähnlich sehen, - so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen
entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer
alles abnutzen müßt. - ) Ach so: Ist es möglich, zu glauben,
man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt, etwas
geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken
gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn
es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben
kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird
sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und
Nacht, ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein: