Drüben?
Machen Sie sich nicht auch noch über mich lustig. Doktor Hafkings hat mich so hineingelegt, daß ich mich eigentlich schämen müßte, es zu erzählen. Und dabei hat er mich ausgelacht mit dem ganzen Zynismus eines Privatdozenten für Gehirnphysiologie. Hören Sie nur.
Es war Mitte Januar und ich war für den Abend in keinem einzigen Hause zwischen dem Potsdamer Tor und dem Zoologischen Garten zum Souper geladen. Merkwürdig! Was? Wozu ist man denn einer der besten Klavier- und Taschenspieler von Berlin, wenn man nicht jeden Abend zwischen drei Einladungen zu wählen haben soll. Ja, da traf ich gegen Mittag unsern gemeinsamen Freund Gresse bei Josty, im Café. Sie wissen doch: Gresse! Der unser aller Freund ist und dessen einzige Beschäftigung zu sein scheint, daß er uns in Familien einführt, bei denen man noch nicht verkehrt. Gresse hört, daß ich frei bin und verpflichtet mich sofort, eine große Gesellschaft bei Fleischers mitzumachen. Da fangen Sie schon zu lachen an! Sie wissen also, wen ich meine. Man habe mich schon lange bei Fleischers gewünscht. Der dicke reiche Fleischer mache nicht mehr im Getreide, sondern habe jetzt den besten Koch und die beste Musik, da drüben in dem neuen Stadtteil hinter dem Tiergarten. Wir wissen ja, daß Gresse überall das Recht hat, bei seinen Freunden seine Freunde einzuführen. Vielleicht bekommt er sogar so und soviel pro Stück. Ich sage nein. Den dicken Fleischer habe ich noch mit keinem Auge gesehen, von der dicken Frau Fleischer habe ich zuviel gehört. Für seinen Koch bin ich noch nicht reif. Mir schmecken Frauen und Hühner noch ungetrüffelt. - Gresse zieht ein Gesicht, wie wenn er einen vergebens anzupumpen versucht hat und sagt: »Schade, es ist da eine Dame, die in Sie verliebt ist.« »So?« - »Die Dame liebt die Offenheit, sie liebt soviel. Sie hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie Sie gern auszeichnen möchte.«
Man ist bekanntlich kein Unmensch, und da die Person auch sehr hübsch sein soll, sage ich endlich zu.
Ich soll ohne Förmlichkeit kurz nach neun Uhr erscheinen. Gresse wird die Vorstellung übernehmen. Wie die verliebte Dame heißt? - »Sie werden Sie zu Tisch führen.«
Es war kurz vor neun, ich steckte schon im Frack und philosophierte darüber nach, ob ich nicht eigentlich mehr Lust hätte, zu schlafen als Eroberungen zu machen. Da klingelt's und Doktor Hafkings kommt herein. Auch er im Frack. Im Sommer habe er mir einmal versprochen, mich zu einem Galasouper in seiner Anstalt mitzunehmen. Sie wissen, er ist Assistenzarzt in so einem eleganten Privatirrenhause. Jetzt komme er sein Wort einlösen.
»Nee, lieber Freund«, sage ich, »das war damals eine Kateridee von mir. Herzlichen Dank für das gute Gedächtnis und den guten Willen. Heute habe ich besseres vor.« Und ich erzähle ihm meine Verhandlung mit Gresse. Doktor Hafkings kriegt sein hübsches infames Lächeln und sagt:
»Du machst dir ein ganz falsches Bild von unserer Anstalt. Die Pension ist so teuer, daß alle unsere Patienten, Männlein und Weiblein, nur den obern Zehntausend angehören. Komfort wie in einem Hotel ersten Ranges und namentlich bei solchen Festen läßt der Direktor sich nicht lumpen. Es ist seine Reklame.«
»Du begreifst aber...«
»Du machst dir ein falsches Bild! Namentlich die hysterischen Damen hätten dich interessiert. Da ist eine Kranke, mehr als hübsch... und du hättest sie zu Tische führen können.«
»Aber verrückt!«
»Na ja, sie hat eine wunde Stelle. Aber wer ist denn geistig gesund in der Großstadt? Psychologisch ist so eine Dame...«
Kurz, ich lasse mich wieder überreden, verzichte auf die unbekannten Genüsse und die Tischdame bei Fleischers und nehme die Einladung von Hafkings an.
Sein Wagen wartete vor der Tür. Er sagte dem Kutscher etwas und wir fuhren über den harten Schnee nach dem Tiergarten.
Als mir neue Bedenken kamen, lachte Doktor Hafkings wieder mit seinem hübschen infamen Lachen. Von Gefahr könne keine Rede sein. Nicht einmal unheimlich sei die Geschichte, nicht unheimlicher als in anderer guter Gesellschaft. ich würde keinen Unterschied wahrnehmen. Sicherlich würden sogar Skatspieler da sein.
Wir waren angelangt und Doktor Hafkings führte mich eilig durch einen kleinen Vorgarten in ein hell erleuchtetes Haus. Es sah gar nicht bedenklich aus. Fleischer oder Sie hätten ebenso wohnen können. »Hier sind die Festräume«, rief Hafkings, »gewissermaßen die Schaufenster der Anstalt. Das eigentliche Irrenhaus ist dort.« Dazu machte er eine vage Handbewegung, die ebenso das Hintergebäude und das Nachbarhaus wie halb Berlin bezeichnen konnte. Über weiche Teppiche kamen wir in das erste Stockwerk und wurden da von zwei Dienern in Livree empfangen.
»Richtige Diener?« fragte ich.
»Nein, Dummköpfe und Diebe, welche ihrem Charakter folgen und die Rolle von Bedienten übernommen haben. Sie sind musterhaft vor den Gästen. Aber du solltest sie unter vier Augen sehen! Bestien!«
»Brechen sie niemals aus?«
»Selten. In großem Stil ist so etwas seit etwa hundert Jahren nicht mehr passiert.«
Während wir die Pelze ablegten, sagte Doktor Hafkings leise: »Apropos, du wirst gar nichts vermissen. Wir haben hier einen Zwillingsbruder des dicken Fleischer. Er hält sich für seinen reichen Bruder und seine Verrücktheit besteht darin, daß er glaubt, er sei der geachtete Wirt der versammelten Gesellschaft. Soweit verlangt er respektiert zu werden. Ich werde dich ihm vorstellen, um ihn nicht zu reizen.«
»Und die schöne Dame, die du mir versprochen hast?«
»Sie wird dich selbst ansprechen. Das ist so ihre Art. Sie liebt die Offenheit.«
Wir traten ein und mein bängliches Gefühl verlor sich nach wenigen Minuten. Es schien zuzugehen, wie in jedem andern Salon. Nur eine gewisse Gemeinheit und krankhafte Gespanntheit glaubte ich auf allen Gesichtern zu sehen. Sonst aber: Toilette und Benehmen wie anderswo, wo man seine Abende zubringt.
Ein dicker Herr trat auf uns zu; er sah aus wie ein Pferdehändler, dem ein Oberkellner Anstandsunterricht gegeben hat. Ich wurde vorgestellt. Der falsche Fleischer verriet seinen Zustand nur dadurch, daß er einen Augenblick auch den Doktor Hafkings wie einen Fremden anstarrte. Dann sagte er unter Händedrücken, was man so zu sagen pflegt. Freude... bescheidenes Heim... Hafkings wird frech und meint: »Sie wissen doch, lieber Fleischer, wen ich Ihnen da zuführe?« Fleischer drückt mir noch wärmer die Hand, murmelt etwas von großer Ehre und läßt uns stehen.
»Ich werde dich zweien oder dreien von den Herrschaften vorstellen, dann wirst du dich gefälligst selbst bedienen.«
»Du mußt mir aber doch vorher ein wenig erzählen, wer die Leute sind.«
»Mit Vergnügen, ich bin ja Psychiater. Von unserm Wirt, dem falschen Fleischer, wirst du ja gehört haben. Er hat einige Male mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift und säße vielleicht darin, wenn er nicht hier in einem Irrenhause lebte,... wie wir alle.«
»Du, Hafkings«, sagte ich dämlicherweise, »so etwas habe ich über den richtigen Fleischer auch schon gehört.
»Ach, das tut nichts, bei dem sind das nur die Vermutungen seiner Freunde... Siehst du drüben die geschminkte Dame mit der Wespentaille? Ihr Vater war Kommerzienrat, ihr Mann ist Titularprofessor. Ihre fixe Idee ist, daß alle Welt von ihrer Schönheit spreche. Vor fünfundzwanzig Jahren soll das nämlich wirklich so gewesen sein.«
»Und wegen so einer Kleinigkeit ist die hier?«
»Du mußt nämlich wissen, daß die Leute trotz der großen Mitgift nur noch knapp zehntausend Mark Einkommen haben und daß sie glaubt, davon sechstausend für Toiletten, Schminke einbegriffen, ausgeben zu müssen. Sie geben offene Gesellschaften und hungern heimlich. Der lange blonde Herr, der mit ihr spricht, ist ein gewisser Doktor Hartwig, Arzt, erst vor einem Jahre von seinen Examinatoren auf die Menschheit losgelassen. Er weiß, daß er nichts weiß und ist insofern ein Philosoph. Aber er hat die fixe Idee, der gesuchteste Arzt von Berlin zu werden und verfolgt dieses Ziel mit der ganzen Schlauheit eines Wahnsinnigen. Der Fall ist für unsereinen sehr kompliziert. Seine Geldgier wäre natürlich kein Symptom von Geisteskrankheit. Alle wissenschaftlichen Morde, die er auf dem Gewissen hat, werden durch seine Eitelkeit und seine Unwissenheit entschuldigt; aber schließlich kann der Staat doch nicht dulden, daß so ein Mann jährlich ein Dutzend Menschen umbringt.«
»Er ist also hier unschädlich gemacht?«
»Den vernünftigen Menschen kann er nicht mehr schaden. Aber hier in dem großen Irrenhause - und Hafkings machte wieder seine vage Handbewegung - treibt er sein Unwesen. Die beiden Herren, die mit ihm sprechen, sind der Prinz X. und der junge Teltower. Prinz X. war in seinen Kreisen schon lange unmöglich; in Bürgerkreisen macht man ihm Hofknickse, trotzdem er jeder Dame, der ältesten wie der jüngsten, nach zwei Minuten den Vorschlag macht, ihn in seiner Junggesellenwohnung zu besuchen. Der junge Teltower ist harmloser. Er möchte gern mit dem Prinzen X. verwechselt werden und spricht darum nur von Tänzerinnen und Pferden. Sein Körper hat Schaden gelitten, besonders sein niedliches Gehirn. Er läßt sich von Doktor Hartwig unter die Erde bringen.«
»Teltower? Du, von dem habe ich schon gehört. Alle Leute nannten ihn blödsinnig. Aber ich dachte, er ginge frei herum.«
»Was man so frei nennt! Aber da kommt ja Frau Urban schon auf dich zu. Sie wird sich dir gründlich vorstellen. Mein Gott, wir sind eben in einem Irrenhause. Ich drücke mich.«
Ich war etwas verlegen. Ich stellte mir eben einen Augenblick vor, ich wäre bei dem richtigen Fleischer, weil mir dort doch auch eine verliebte und offenherzige Frau versprochen worden war. Frau Urban war eine hübsche kleine Person, die mir in anderer Gesellschaft kaum aufgefallen wäre. Hier bemerkte ich sofort dunkle Ränder um ihre schönen, flackernden Augen und gemeine Falten um den hübschen Mund. Sie sah so... ich möchte sagen, zerdrückt aus.
Sie trat unbefangen an mich heran, nannte mich beim Namen und freute sich, meine Bekanntschaft zu machen. Nach einigen Redensarten über mein letztes Konzert und den neuesten Theaterklatsch bat ich um die Erlaubnis, sie zu Tische führen zu dürfen.
»Ach was«, rief sie, »das habe ich schon veranlaßt. Wir sitzen nebeneinander und wenn Sie nett sind, werde ich nach dem Braten unwohl, muß fort und Sie begleiten mich nach Hause. Sie sind doch nicht zu schüchtern?«
Das war ein starker Tobak. In wirklich guter Gesellschaft hatte sich so etwas höchstens zweimal in meinem Leben ereignet. Freilich schien Frau Urban auch hier die einzige Kranke dieser Art zu sein. Sie wurde von einigen Pensionärinnen der Heilanstalt geschnitten, und die jüngeren Herren lächelten eigentümlich, wenn sie an Frau Urban vorüberkamen.
Ein stattlicher Mann trat auf uns zu und stellte sich mir als der Dichter Felix Raguhn vor. Da ich den Namen niemals gehört hatte, mußte ich glauben, es wäre eben der Dichter, der in keinem Irrenhause fehlt. Raguhn war offenbar eifersüchtig. Er erklärte sich für einen Musikfreund und führte mit Frau Urban ein ganz gebildetes literarisches Gespräch. Wir sprachen von Ibsen, wie man überall von Ibsen spricht. Raguhn schimpfte und Frau Urban verteidigte. Sie verbarg ihre Krankheit meisterlich und wäre so, wie sie jetzt unter sechs Augen war, eine Zierde jedes ästhetischen Tees gewesen. Nur daß leider schon zu viele Herren davon wußten, wie sich ihre Krankheit unter vier Augen äußerte. Das war mir unangenehm und ich faßte den Entschluß, etwas zurückhaltend zu sein und Frau Urban wie die übrige Gesellschaft nur psychologisch zu studieren.
Inzwischen waren noch mehr Herren gekommen. Alle mit dem gleichen jugendlichen und doch müden Lächeln. Ich beobachtete, daß gerade die ältesten Herren die Müdigkeit zu verbergen und die Jugendlichkeit zu übertreiben suchten, daß die jüngsten es umgekehrt machten. Diese Freude an der Lüge schien mir bezeichnend für das Milieu, in dem ich mich befand. Mehr als einmal sah ich, wie ein Herr mit einer Dame am Arm eintrat, beide Gesichter wie zerzankt, aber mit einem frisch aufgesetzten Lächeln über den verwüsteten Zügen.
Doktor Hafkings rief mich heran, er wolle mich an der Unterhaltung einer schwedischen Sängerin teilnehmen lassen, die auch nach kurzer Vorstellung in ihrer Auseinandersetzung fortfuhr: daß sie sich selbst für eine maskuline, den Doktor Hafkings jedoch für eine feminine Natur halte. Ein wild aussehender Herr reichte ihr den Arm und führte sie fort.
»Der Maler!« sagte Hafkings zu mir. »Er malt das Laub blau und behauptet, es so zu sehen.«
Ich fragte, warum denn all diese Leute, die doch in der Anstalt wohnen, so vermummt die große Treppe heraufkämen.
»Du weißt gar nichts«, sagte Hafkings und sein infames Lächeln war nicht mehr hübsch. »Es ist doch bekannt, daß die Insassen von Irrenhäusern nicht eingestehen wollen, wo sie sind. Wahnsinn ist die Krankheit, die man nicht eingesteht. Alle diese Herrschaften behaupten, irgendwo in Berlin W zu wohnen. Dadurch besonders unterscheiden sich solche Häuser von den Gefängnissen, daß die Verbrecher dort nicht leugnen, eingesperrt zu sein. Hier zeigt niemand gern sein trübes oder sein wildes Herz, er hätte denn zu enge Stiefel oder zu weite Magenwände. Übrigens wollen wir uns doch hier nicht bloß miteinander unterhalten. Ich mache meine Studien, mache du die deinen.«