Als der Zug langsam in die Halle des Münchener Centralbahnhofs einfuhr, lehnte er sich weit heraus, um dem zu seinem Empfang herbeigekommenen Freunde zuzuwinken. Dann stieg er aus, und die beiden schüttelten sich kräftig die Hand.
»Schön, daß du wieder da bist!«
»Und du bist immer noch der alte? Den Lodenmantel da kenne ich noch. Hast dich wenig verändert.«
»Ja, ja«, sagte Fritz Beier, »und du bist ja der reine jeune homme chic geworden - komm, laß uns gehen.«
Langsam bummelten sie durch die Stadt hin und hatten sich viel zu erzählen.
»Aber kehren wir ein, Fritz, ich bin müde.«
»Mir ist's recht, was meinst du zum Café Max - aus alter Erinnerung?«
»Du, existiert denn der alte Stammtisch noch von damals?«
»Gott bewahre, das ist alles längst auseinander, ich war seit Ewigkeiten nicht mehr drin. Habe keinen Schimmer, wer da jetzt verkehrt.«
»Na, dann laß uns nur mal wieder hineingehen und den Rummel anschauen.«
Erinnerungen wurden in dem Zurückgekehrten lebendig an die alte Bohème-Zeit.
Sie traten ein. Es war spät. Nur drei Gäste im Lokal. Der eine spielte mit dem Wirt Billard, der zweite saß mit der Kellnerin in einer verschwiegenen Ecke und der dritte gähnte gelangweilt hinter seiner Zeitung.
Sie setzten sich an den alten Stammtisch zu einem Absinth. Beiden wurde ganz wehmütig. Ja - damals!
Und dann fingen sie an, von den alten Zeiten zu sprechen. Raoul hatte viel zu fragen nach den einstigen Bekannten. »Ja, weißt du, es ist immer dasselbe vom Lied: Die Zigeunerei hört von selbst auf. Jeder kriegt's einmal satt und fängt an, zu streben und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.«
Der »jeune homme chic« starrte in seinen Absinth, und verblaßte Bilder stiegen vor ihm auf.
»Was ist denn aus dem ›polnischen Hamlet‹ geworden? Denkst du noch, wie er dasaß und dozierte: Könnt ihr alle nicht verstehen, ›Hamlet‹?«
»Gott im Himmel, ja, und wie er uns wegen uns'rer Oberflächlichkeit heruntermachte. - Ich glaube, er hat jetzt die Fabrik seines Onkels übernommen und versorgt die Welt mit Seife, die er selbst nie brauchte.«
»Und seine Ophelia, die große Blonde?«
»Na, die ist ihm längst durch. Sie ist jetzt irgendwo in der Schweiz und macht Nihilismus. Na ja, diese norddeutschen Mädel, wenn die nach München kommen -«
»Damals war sie immer so unheimlich korrekt. Weißt du noch, wie wir sie damit aufzogen, daß sie in unsrer dekadenten Mitte immer noch den ›moralischen Maßkrug‹ hochhielt?«
»Ja, das hatte die Gräfin aufgebracht.«
»Gott ja, die Gräfin, was ist aus der geworden? Wo ist sie hingekommen? Ich seh' sie noch vor mir, wie sie abends hereinkam, wenn wir alle schon dasaßen. Heile Stiefel hatte sie nie an, aber dafür eine Reitgerte mit silbernem Griff, von der sie sich nie trennte. Die stammte noch aus ihrer Glanzzeit auf den väterlichen Gütern. Sie kam immer allein und meist sehr spät, und dann knallte sie mit ihrer Peitsche auf den Tisch. ›Donnerwetter, Kinder, jetzt muß ich zuallererst einen Nervenreiz haben!‹ - Du, Fritz, was weißt du von ihr? Erzähl doch, es interessiert mich.«
»Ja, ich weiß schon, du hast immer ein Faible für exzentrische Weiber gehabt, das kennt man. - Sie soll jetzt Schauerromane für die ›Illustrierte Gerichtszeitung‹ schreiben. Damals, als sie mit ihrem Milchgeschäft pleite gegangen war.«
»Milchgeschäft?«
»Naja, mit dem Milchgeschäft. Die Geschichte spielte doch noch zu deiner Zeit?«
»Keine Spur, was war denn damit?«
»Na, stell dir vor, das verrückte Frauenzimmer verfiel eines Tages auf die Idee, ein Milchgeschäft zu betreiben. Sie hatte es ja immer mit Erwerbszweigen zu tun.«
»Ja, ich weiß, damals wollte sie sich durchaus bei einer Akrobatengesellschaft von der Oktoberwiese engagieren lassen«, sagte der »jeune homme chic«. »Sie war ganz wild darauf, drei Abende lang hat sie mit allem jongliert, was ihr in die Hand kam, und verfluchte ihre Erzieher, die ihre Gelenke hatten einrosten lassen, wie sie sagte.«
»Gut«, fuhr der andere fort. »Das ging vorbei, aber die Idee mit dem Milchgeschäft saß fest. Wochenlang redete sie von nichts anderem. Dann schwieg sie wieder und kam überhaupt des Abends nicht her. Wie wir nachher erfuhren, war sie als Statistin am Hoftheater und verdiente allabendlich 58 Pfennige und morgens für die Proben 35. Davon lebte sie und legte ihr anderes Geld zurück. Dann kam sie nach einigen Monaten endlich wieder, abgerissener als je, aber sonst gar nicht wiederzuerkennen. Sie hat nicht gesungen, nicht gepfiffen, keinen unnötigen Lärm gemacht, sondern sich ganz stillbefriedigt herangesetzt und ihren Absinth getrunken. Und dann auf einmal emporgefahren und mit dem unvermeidlichen Fuchtelknochen auf den Tisch geschlagen: ›Kinder, ich hab's.‹
›Was hast du, was ist los‹, brüllten wir ganz gespannt, denn, wenn es auch immer Blödsinn war, was sie ›hatte‹, so war es doch wenigstens meist etwas Neues, und es lag eine Art Methode darin.
Diesmal waren wir gründlich überrascht. Sie hatte die Geschichte mit ihrem Milchgeschäft wirklich zustande gebracht.«
»Na, und wo hatte sie das Geld her?« fragte Raoul Lichtwitz gespannt, »die Ersparnisse werden doch schwerlich gereicht haben.«
»Gott bewahre, sie hat da die unglaublichsten Geschichten geleistet. Finanzoperationen waren ja immer ihre starke Seite, wie du dich erinnern wirst. Da ist sie bei allen ihren Bekannten herumgegangen, die noch so glücklich waren, silberne Löffel oder goldene Uhren zu besitzen und hat sich was zum Versetzen ausgeliehen -«
»Na hör mal -«
»Nun, du weißt doch selbst, wie das in uns'rer damaligen Gesellschaft war. Was man grad' nicht selbst versetzt hat, ist doch egal, ob's jemand anders versetzt. Man hilft sich eben aus. Und sie hat so überzeugend zu reden gewußt von momentaner Verlegenheit und den Leuten plausibel gemacht, daß ein Reklamelöffel mit der Inschrift: ›Trinkt Kath'reiners Malzkaffee‹ genau dieselben Dienste leistet wie ein silberner. Genug, sie bekam alles mögliche zusammen. Aber es reichte immer noch nicht. Dann ist sie auf die Anatomie gegangen zu dem alten Professor Rüdiger. Sie hatte mal irgendwo gehört, daß man seinen Leichnam schon bei Lebzeiten zur Sektion verkaufen könne. Das hat sie uns später alles selbst erzählt: wie der weißhaarige Alte, eben aus der Vorlesung gekommen, in Seziermantel und schwarzer Samtmütze, umringt von anatomischen Präparaten, vor einem ›auserlesenen Frühstück‹ saß, während sie ihm ihr Anliegen vortrug. Wie er dann ganz desperat gesagt hat, jetzt im Karneval käme halb München und wolle sich sezieren lassen, um das Geld zu verjubeln, und schließlich hat er ihr väterlich liebevoll die Backen getätschelt und gesagt: ›Nein, nein, mein Kind, daraus wird nichts. Jetzt sind Sie mir viel zu nett zum Sezieren, und später bekommen wir Sie ja doch erst als altes Mütterchen.‹«
»Die hat doch Schneid gehabt«, meinte Raoul voll Ekstase.
»Danke für Schneid«, sagte Fritz Beier. »Es war denn doch etwas reichlich. Sie hat ihm auch noch die Leichen von drei oder vier ihrer guten Bekannten angeboten. Am Ende hätte sie noch den ganzen Stammtisch zum Anatomie-Futter verkauft -«
»Weiter, weiter, jetzt wird's spannend.«
»Also, mit den Leichen war es nichts, aber sie hat das Geld doch schließlich zusammengebracht. Unter anderem hat sie eine ganze Anzahl Prachtwerke, Stuck-Album und alles mögliche auf Ratenzahlung genommen, und ehe die erste Rate gezahlt war unter der Hand zu etwas herabgesetzten Preisen wiederverkauft. Und was weiß ich noch. Vor allem hat sie aufgehört, Schulden zu bezahlen, was sonst ihre Hauptbeschäftigung war.
Der besagte Abend verlief übrigens sehr lustig. Die Komtesse fühlte sich Kapitalistin und ließ Sekt anfahren. Sie behauptete, sie brauche zwar heute keinen Nervenreiz, müsse aber doch einen haben. Was die anderen Gäste an dem Abend gedacht haben, weiß ich nicht. Das Café Max erbebte nur so von Hochs auf das ›Gräfliche Milchgeschäft‹.
In acht Tagen sollte die Geschichte eröffnet werden. Bis dahin hatte sie noch viel zu tun, aber sie kam wieder allabendlich und erzählte uns von den Schritten, die noch zu tun waren. Vormittags konferierte sie zwei Stunden lang im Café Elite mit dem Verwalter des Hausbesitzers, dem die Bude gehörte. Nachmittags fuhr sie in die Schillerstraße, um sich mit Herrn Humplmayr, dem damaligen Besitzer des Geschäftes zu besprechen. Dann machte sie einen Landmann ausfindig, der die Milch um dreizehn Pfennig pro Liter abließ. Auf diesen Erfolg war sie besonders stolz, sonst mußte man immer fünfzehn Pfennig zahlen. Die Zeit, die ihr übrigblieb, verwandte sie dazu, um sich die nötigen ›Kenntnisse in der Branche‹ zu erwerben.
Wir bekamen sogar Aufträge, ich hatte ein Schild mit einer Alpenlandschaft und Kühen zu malen, darunter die Inschrift: Milch- und Butterniederlage, ausgeübt von Gräfin von so und so. Erst sollte es Humplmayrs Nachfolger heißen, aber nach eingehender Beratung kamen wir überein, die ›Gräfin‹ würde besser ziehen. Der Maxl, der Bildhauer, du kennst ihn auch noch, mußte eine Kuh für die Fensterausschmückung modellieren, die mit dem Kopf wackeln konnte. Stilvolle Annoncen wurden komponiert, kurz, wir bekamen alle Hände voll zu tun und waren alle ganz Milchgeschäft.