Schließlich war der große Tag gekommen. Humplmayr hatte das Feld geräumt. Die Gräfin war mit ihrem ganzen Besitz, der aus Bett, Koffer, Staffelei und drei schwarzen Dackeln bestand, in die Schillerstraße übergesiedelt. Sie wollte selbst im Geschäft wohnen. Es mußte doch immer jemand da sein, und die zwei Zimmer nebst Küche mußten sowieso mitgemietet werden. Unsere Bande besorgte, wie das Usus war, bei Nacht und Nebel den Umzug. Das Schild wurde befestigt, es war ein Meisterwerk, das Beste, was ich jemals gemacht habe. Dann das Schaufenster dekoriert. Die Kuh, die der Maxl überraschend naturgetreu getroffen hatte, prangte höchst effektvoll zwischen Pyramiden von Käse und Semmeln.

Dann wurde Bier geholt und bei geschlossenen Läden das frohe Ereignis oder vielmehr die Aussicht auf die frohen Ereignisse gefeiert. Gegen ein Uhr wollte die Gräfin uns entlassen, sie war in Angst, daß sie sonst die Zeit verschlafen würde, sie müsse um vier Uhr in der Frühe am Platz sein. Sonst pflegte sie erst um elf Uhr aufzustehen. Wir machten sie darauf aufmerksam, daß es sich überhaupt nicht mehr verlohne, zu schlafen, und so zogen wir schließlich noch alle ins Luitpold. Sie war gar nicht wiederzuerkennen an dem Abend. Eine Art Feierlichkeit lag über ihrem Wesen. ›Ja, Kinder, jetzt fängt der Ernst des Lebens an‹, sagte sie mehrmals ganz ernst und weihevoll. Schließlich steckte sie uns alle an, und in banger, erwartungsvoller, beinahe andächtiger Stimmung brachen wir gegen drei Uhr auf und geleiteten sie unter Absingen von Chorälen - etwas bezecht waren wir alle - an die Stätte ihres demnächstigen Wirkens. Sie hatte keine Ruhe mehr gehabt zu bleiben, aus Furcht, es könne eingebrochen und das Inventar gestohlen werden.

Endlich standen wir vor der Ladentür. ›Verlaßt mich nicht in dieser Stunde‹, sagte sie ganz ergriffen, ›kommt mit herein. Ich mach euch einen Kaffee.‹

Wir saßen im Zimmer hinter dem Laden und erwarteten die schicksalsschwangere Morgenstunde. Die Dackel schliefen vor dem Ofen. Unsere Gastgeberin hatte sich in ihre zukünftige ›Millifrau-Uniform‹ geworfen, ein schlichtes schwarzes Kleid mit blendend weißer Schürze. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie komisch sich das ausnahm bei ihren kurzen Haaren. Sie schien das selbst zu fühlen, stand lange nachdenklich vor dem Spiegel und meinte, wenn dies Geschäft sich rentiere, werde sie sich eine Perücke mit geradem Scheitel und einladenden Zöpfen kaufen, das ganze müsse einen solid bürgerlichen Eindruck machen. Endlich schlug es vier, dann halb fünf. Etwas später rollte ein Wagen vor und ein scharfes Klingeln ertönte. Die Dackel fuhren mit einem wahren Mordsgebell in die Höh'. Die Komtesse wurde leichenblaß: ›Um Gottes willen, haltet die Köter fest und macht keinen Lärm.‹ Sie warf mir die Reitpeitsche in den Schoß, war hinaus und schlug die Tür zu.

Draußen hörten wir sie mit dem Kutscher verhandeln, dann eifriges Auf- und Abgehen im Laden, schweres Dröhnen von Gefäßen, Platschen, Klirren von Geldstücken und der Wagen rollte wieder fort. Sie kam wieder herein, ganz echauffiert: ›Die Milch ist da, nun müssen wir sie taufen. Wo mag nur die Wasserleitung sein?‹ Wir suchten, und schließlich entdeckte der Maxl sie auf dem Flur in einer dunklen Ecke. Dann saßen wir wieder atemlos in unsrer Hinterstube. Es kamen wirklich Kunden. Die Gräfin platschte, goß und klapperte mit ihren Milchgefäßen, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätte. Ich muß wirklich sagen, an dem Morgen hat sie uns kolossal imponiert. Wir waren ganz baff vor Bewunderung über ihr routiniertes Auftreten. Wir hatten leise die Tür halb aufgemacht und sahen zu, wie sie mit den Leuten verhandelte. Die Arme hatte sie in die Seite gestemmt und sah ganz zunftmäßig aus. Die Kunden betrachteten sie etwas erstaunt und warfen dann und wann einen noch erstaunteren Blick nach unsrer Tür. Als der Laden einen Augenblick leer war, drehte sie sich um und wurde wütend, als sie uns sah. ›Um Gottes willen, ihr verjagt mir ja die Leute. So eine bezechte Bande im Hintergrund, das sieht unsolid aus. Geht lieber nach Haus, ich komme dann abends ins Max.‹

Eben kam wieder eine dicke Frau mit blauer Kanne. Die Tür flog zu. Die Dackel machten einen Mordsspektakel, wir fielen über die Cognacflasche her, und der Hamlet intonierte mit Donnerstimme: ›Hoch soll sie leben!‹ Dann machte sie aber Ernst und warf uns hinaus. Wir mußten einzeln fortgehen, um kein Aufsehen zu erregen. An dem Abend kam sie um halb elf ins Max. ›Das Geschäft geht brillant, aber müde bin ich zum Umfallen.‹ Sie strahlte, trank drei Tassen schwarzen Kaffee und stürzte wieder fort, um auszuruhen.

Acht Tage lang sahen wir nichts von ihr. Sie hatte sich unsere Besuche verbeten, ›um die dehors zu wahren‹. Dann kam eines Abends ein Dienstmann mit einem Brief. ›Kinder, bitte kommt auf einen Milchpunsch zu mir. Kommt möglichst vollzählig.‹

Wir erschienen in corpore und mußten circa zwanzig Liter nachgebliebene Milch in allen möglichen Gestalten vertilgen helfen. Die Komtesse machte einen ziemlich deprimierten Eindruck.

Sie zog mich beiseite und bat mich, die Inschrift auf dem Firmenschild in ›Humplmayrs Nachfolger‹ umzuändern. Sie glaube, die ›Gräfin‹ mache die Leute stutzig. Übrigens wollte sie jetzt noch einen Zeitungsverkauf und einen Schnapsausschank mit dem Milchgeschäft verbinden. Willy Stenzel, der Lithograph, der damals gerade keine Arbeit hatte, trat mit in das Geschäft ein. Er bekam dafür den Titel Kompagnon, und seine Tätigkeit bestand im Vertilgen der nachgebliebenen Milch. Der Schnapsausschank wurde unter Diskretion im Hinterzimmer betrieben, weil die Konzession zuviel kostete, und florierte ziemlich. Willy entwickelte ungeahntes Talent zum Kellner, und die blonde Luise Johannsen, die Ophelia aus Mecklenburg, mußte als Anziehungspunkt hinter dem Büfett sitzen und Buch führen. Wir andern erschienen gewissenhaft jeden Vormittag zum Milchfrühschoppen.

Das ging noch so vier Wochen, dann kam Neujahr.

Die Gräfin kam am Silvesterabend bleich und verstört ins Café. Ihr Vorgänger im Geschäft hatte ihr einen fürchterlichen Streich gespielt. Er hatte an der nächsten Straßenecke wieder einen Milchladen aufgetan und die Kunden von ihr abgezogen. Sie hatte vergessen, wie es üblich ist, die diesbezügliche Bedingung im Kaufkontrakt festzumachen. Den Milchbezug hatte sie jetzt schon von zweihundert auf hundert Liter herabsetzen müssen, es gingen höchstens fünfzig pro Tag ab, und unsere vereinten Kräfte hätten nicht vermocht, des Restes Herr zu werden. Willy Stenzel war von dem unausgesetzten Milchkonsum schon so dick geworden, daß sein Arzt ihm eine Entfettungskur anempfohlen hatte. Das ›Zweistundenweib‹ zum Austragen war längst abgeschafft, und die Komtesse lief morgens selbst treppauf, treppab mit Milchkannen, Semmeln und Zeitungen. ›Wenn ich nur einen Blick in meine Familiengruft tun könnte‹, sagte sie einmal ganz verzweifelt, ›um zu sehen, ob meine Ahnen noch auf der richtigen Seite liegen.‹

Die Schnapsproletarier waren noch ihre einzige Rettung. Sie wußte ihre Herzen zu gewinnen, indem sie sich zu ihnen setzte und mit ihnen Schnaps trank und jede Woche einmal ihren Namenstag kundgab, an dem sie die ganze Bande traktierte. Sie schickten ihr dafür ihre Frauen und Kinder zum Milchholen.

Wenn nur die Jahreswende erst überstanden war. Die Gräfin hatte alle ihre Gläubiger, und die sollen nach Legionen gezählt haben, auf das brillant gehende Geschäft vertröstet. Wir alle zitterten mit ihr.

Die ersten Januartage verliefen noch ruhig. Aber das konnte die allgemein gedrückte Stimmung nicht heben. Am 5. oder 6. Januar begann es Rechnungen zu regnen. Eines Tages vermißten wir die Dackel. ›Ich hab sie dem Schreiner gegeben, der mir den Ladentisch und die Regale gemacht hat‹, sagte sie fast mit Tränen in den Augen. ›Und dem Spengler hab ich sie auch versprochen, damit er einstweilen Ruh' gibt. Und dann war der Schnapslieferant da, dem bin ich an die 100 Mark schuldig. Der Kerl wollte mich denunzieren, weil ich ohne Konzession ausschenke, aber Willy und ich haben mit ihm gekneipt, bis er gerührt und versöhnlich abgezogen ist.‹

Wir versuchten sie zu trösten, aber es kam nicht recht von Herzen. Wir sahen ›la débâcle‹ herankommen und wußten nicht, wie man sie davor retten sollte.

Bald darauf kamen sie und Willy eines Abends ganz verstört zu uns. Die Komtesse war sichtlich nervös, sie warf die Reitpeitsche in die Ecke, pfiff den Dackeln, stieß dann einen tiefen Seufzer aus, als ihr einfiel, daß sie nicht mehr da waren. Dann setzte sie sich an den Tisch und sagte resigniert: ›Jetzt haben wir den Dalles, wir sind ruiniert!‹

Der Kompagnon sah rotbackig und geknickt zu ihr herüber und erzählte dann, daß der Buchhändler die Komtesse auf Betrug verklagt habe; sie hatte schon längst keine Raten mehr für die Prachtwerke gezahlt, und als er dann die Werke selbst zurückverlangte, mußte sie zugeben, sie verkauft zu haben. Nun würde sie brummen müssen, und wer sollte dann das Geschäft führen? Willy kannte sich in der ›Branche‹ nicht genügend aus, und die Ophelia war zu faul. Heute schlief sie seit 24 Stunden, weil sie gestern in der Schnapskantine hat ausschenken müssen. Morgen sollte ihr gekündigt werden. Die ganze Tafelrunde war mit niedergeschmettert.«

Fritz Beier machte eine lange Pause und bestellte 2 Melanges.

»Nun und?« fragte Lichtwitz, während er in seinem Glase rührte.

»Ja, damit war die Geschichte eigentlich zu Ende. Der Krach war nicht mehr aufzuhalten. Es gingen noch ein paar Wochen hin, während denen sie unaufhörlich vor Gericht zitiert wurde. Der Schnapslieferant hatte sie sofort denunziert, nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen, und die Schnapskantine wurde polizeilich aufgehoben. Ein paarmal hatten wir uns allesamt wegen nächtlicher Ruhestörung zu verantworten, denn weil keine Kunden mehr kamen, saßen wir schließlich Tag und Nacht im Laden und tranken Milchpunsch, um sie wenigstens noch etwas aufzuheitern. Willy war ganz verzweifelt. Die Komtesse tröstete sich noch damit, daß man vielleicht noch mit Vorteil betrügerischen Bankrott machen könne. Der Maxl hatte ein Pleitelied komponiert, das den ganzen Tag gesungen wurde. Ich sage dir, die Nachbarn standen oft scharenweise vor der Tür und vor den Fenstern und hörten dem Radau zu. Schließlich wurde eines Tages das Inventar gepfändet und die Bude bis auf weiteres geschlossen.«

»Und sie, die Gräfin, was tat sie nachher?«

»Was sollte sie tun? An dem Abend, wie das geschehen war, waren wir natürlich wieder hier, und sie kam auch, schlug einmal wieder mit der Reitgerte auf den Tisch, was sie schon lange nicht mehr getan hatte, und verlangte einen Nervenreiz nach dem andern. Sie schien ganz aufgekratzt, aber wir wußten schon, daß sie nur so tat, die Geschichte war ihr doch sehr nahe gegangen. Als wir aufbrechen wollten, sagte sie: ›Na, Kinder, mich werdet ihr nicht so bald wieder sehen. Ich gehe ins Ausland. Sonst kann ich den ganzen Rest meiner kostbaren Jugendzeit hinter Schloß und Riegel sitzen. Ich habe einen ganzen Stoß von Vorladungen und Anklagen, die lasse ich euch zum Andenken da. Und meine Ahnen würden sich gar zuviel im Grabe umdrehen müssen, dazu habe ich doch noch zuviel Pietät. Ich gehe lieber fort.‹«

»Ist sie denn wirklich ins Ausland?«

»Wenigstens war sie fort. Sie soll damals irgendwo hier in der Nähe aufs Land gegangen sein, und die Münchener Polizei hat sie nicht ausfindig gemacht. Sie schrieb nie und ließ nichts von sich hören, um jede Spur zu verwischen. Man hörte nur hier und da noch irgendwelche Gerüchte über sie.«

»Schade«, sagte der »jeune homme chic«, »ich hätte sie doch gerne einmal wiedergesehen.«

»Wer weiß«, antwortete Fritz Beier tiefsinnig, »solche Existenzen tauchen immer mal wieder auf. - Zahlen -« 


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